Warum Joban Singh nicht mehr leben wollte
Er pflückte Kohlrabi für deutsche Supermärkte: Joban Singh hatte sich hoch verschuldet, um nach Italien zu kommen. Dort arbeitete der Inder als Erntehelfer – ohne Papiere, für einen Hungerlohn. Bis er keinen Ausweg mehr sah.
Das Leben von Joban Jobandeep Singh endete so, wie er sich in seinen letzten Wochen gefühlt hatte: traurig und allein. Am 5. Juni 2020 meldete er sich morgens von der Arbeit ab. Er ging nicht zu dem Feld, auf dem er die vergangenen Monate fast täglich Auberginen, Zucchini und Kohlrabi geerntet hatte. Seinen Kollegen sagte er, er fühle sich krank. Als sie gegen 9.30 Uhr wegen Regenwetters früher als geplant vom Feld zurückkehrten, fanden sie ihn tot auf.
Zwei Tage zuvor hatte er einem Vorarbeiter noch seinen Pass gegeben, in der Hoffnung, endlich einen Arbeitsvertrag zu erhalten. Schon damals müssen ihn große Sorgen geplagt haben. Kollegen sagen, er sei wie besessen gewesen von seinen Schulden. Etwa 10.000 Euro soll er sich geliehen haben, um von Indien nach Italien zu kommen. Dem gegenüber stand ein Stundenlohn von vier bis fünf Euro, die Hälfte des offiziellen Tariflohns. Gut 2000 Euro sollen Joban Singh zudem von seinem Lohn vorenthalten worden sein. Joban Singh arbeitete schwarz.
Die Geschichte könnte hier zu Ende sein. Wäre es ein Einzelfall. Doch die Ausbeutung hat System. Und das Sterben auch. Allein im vergangenen Jahr sollen sich in Italien mindestens vier Feldarbeiter mit ähnlichem Schicksal das Leben genommen haben. Der letzte von ihnen starb im Oktober. Der italienische Gewerkschaftsbund CGIL schätzt, dass landesweit etwa 400.000 Menschen in der Landwirtschaft ausgebeutet oder illegal beschäftigt werden.
Was die Tagelöhner ernten, kommt in die Einkaufswagen Europas. Besonders Deutschland ist bekannt für seine Nachfrage nach günstigem Obst und Gemüse. Und der italienische Markt liefert. Auch Joban Singh erntete für deutsche Kunden: Die Produkte seines letzten Arbeitgebers landeten unter anderem bei Aldi Nord.
Bevor Obst und Gemüse vom Feld in die Supermärkte gelangen, werden sie bereits mehrfach weiterverkauft. Zwischenhändler organisieren die Lieferung von den Herkunftsländern bis in die Lager großer Handelsunternehmen. Es sind oft Lieferketten der Verantwortungslosigkeit. So auch im Fall von Joban Singh.
Für ihn kommt es zu spät, doch seit dem 1. Januar dieses Jahres sollen deutsche Unternehmen mehr Verantwortung übernehmen. Das sogenannte Lieferkettengesetz nimmt sie künftig stärker in die Pflicht, wenn Menschenrechte verletzt und die Umwelt zerstört wird. Es ist ein politischer Erfolg, um den lange gerungen wurde. Doch angenommen, das Lieferkettengesetz wäre bereits früher in Kraft gewesen: Hätte es Joban Singh wirklich helfen können? Wer trägt die Verantwortung für sein Schicksal und das vieler anderer? Die italienischen Besitzer der Felder? Die europäischen Konsumenten? Deutsche Supermarktketten?
Diese Geschichte ist eine Spurensuche, die in Italien beginnt, nach Indien und wieder zurück bis nach Deutschland führen wird. Sie beginnt dort, wo Joban Singhs Leben endete. Am Ortsrand von Sabaudia. Einer kleinen Stadt eineinhalb Stunden südöstlich von Rom. Im Süden der Provinz Latina, direkt am Meer.
Der Ort der Ausbeutung
Das Haus, in dem Singh die letzten Wochen lebte, steht noch heute wie unverändert da. Die tristen Gebäude der ehemaligen Feriensiedlung Bella Farnia am Ortsrand von Sabaudia sind graue, verschmierte Würfel. Viele sind überbelegt, vor den Holztüren türmt sich Müll. Einst verbrachten hier Familien ihren Urlaub. Heute dienen die Gebäude vielen Erntehelfern als Unterkünfte. Die meisten stammen aus Indien.
Noch vor Sonnenaufgang sind die Männer in der ganzen Region zu sehen. Die Schnellstraße 148 führt von Rom ausgehend 109 Kilometer nach Süden. Jeden Morgen verwandelt sie sich in Italiens längsten Radweg. Die Erntehelfer kommen aus Seitenstraßen und Nachbarorten. Manche fahren täglich mehrere Stunden mit Fahrrädern auf die Felder. Abends wiederholt sich das Schauspiel. Die nach Norden fahrenden Lastwagen drücken die Radfahrer jetzt fast in den Graben. Dass die Straße keine klaren Spurbegrenzungen hat, passt zu dem Gefühl, das man hier bekommt: Jeder muss schauen, wo er bleibt.
Auch Joban Singh dürfte oft auf der Straße gefahren sein. Die pontinische Ebene ist ein Zentrum der italienischen Landwirtschaft, auch im Winter ist das Klima warm genug für den Anbau. In den meisten Betrieben wird an mindestens sechs Tagen die Woche gearbeitet. Billige Arbeitskräfte gibt es genug.
Joban Singhs offenbar letzter Arbeitgeber ist die »Cooperativa Agricola Di Girolamo«, einer der Großbauern der Region. 2020 machte das Unternehmen mit Gemüse 17 Millionen Euro Umsatz, ganz überwiegend durch den Export. Singh erntete offensichtlich illegal für das Unternehmen, dessen Anwälte bis heute jede Kenntnis des Falls abstreiten. Ehemalige Kollegen und Mitbewohner bestätigten dem SPIEGEL jedoch, dass er dort gearbeitet hat und schildern teils detailliert, wie und von wem Löhne in bar ausgezahlt wurden. Sie bestätigen auch, dass die gezahlten Summen weit unter dem Tariflohn lagen – und Singh nicht der einzige illegal Beschäftigte war.
Für das Verständnis des ausbeuterischen Systems ist der Name Girolamo kaum weiter wichtig. Entscheidend sind die Fragen, warum offenbar nie jemand diese Zustände überprüfte – und wie der junge Inder Joban Jobandeep Singh überhaupt hier landete.
In den vergangenen zehn Jahren wurden allein in der Provinz Latina insgesamt 47.550 Anträge für Saisonarbeitsvisa gestellt. Etwa 26.000 davon entfielen auf Inder, der Rest vor allem auf Menschen aus Bangladesch und Pakistan. Schon die Anträge wirken wie Lottoscheine, nur knapp 8000 wurden am Ende tatsächlich bewilligt. Grundsätzlich benötigt jeder Erntehelfer einen zugesagten Arbeitsplatz, um nach Italien einreisen zu können.
Das »Bossi-Fini-Gesetz« ist eine Erfindung rechter Politiker. Es sollte dafür sorgen, dass Migranten nur dann nach Italien einreisen können, wenn sie gerade nützlich erscheinen. Tatsächlich sorgt es dafür, dass italienische Arbeitgeber Menschen einstellen, die sie noch nie zuvor gesehen haben. Umgekehrt macht es Arbeitswillige von einem Unternehmen in einem fremden Land abhängig, das auch sie nicht kennen.
Wer in Indien nach Arbeit im Ausland sucht, hat von dem Gesetz vermutlich nie gehört. Um ohne Sprach- oder Landeskenntnisse an einen italienischen Arbeitsvertrag zu kommen, wenden sich viele Arbeitssuchende deshalb an sogenannte Agenten. Viele von denen verlangen bis zu 15.000 Euro für ihre Dienstleistungen. Ein zwielichtiges Geschäft. »Es ist absurd zu glauben, dass ein solches System auf legale Weise funktionieren kann«, sagt der auf Migration spezialisierte Rechtsanwalt Francesco Mason. Das derzeitige Einwanderungsrecht sei geradezu eine Einladung an italienische Unternehmen und indische Vermittler, sich zu bereichern.
Die Staatsanwältin Daria Monsurrò gehört zu denjenigen, die gegen das System der Ausbeutung ankämpfen. In ihrem Büro wirkt es, als würde sie bald erdrückt von den Unmengen an Papieren und Dokumenten, die sich um sie herum stapeln. Seit 2015 sind in Latina 112 Verfahren wegen Menschenhandels und Begünstigung illegaler Migration anhängig. Dazu kommen 22 Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt. Monsurrò selbst übernimmt etwa einen neuen Fall pro Monat.
Es sei äußerst schwierig, genügend Beweise zu beschaffen, um die Fälle vor Gericht zu bringen, sagt sie: »Die Zahlungen erfolgen in bar und ohne Quittung. Wir sind im Wesentlichen auf Abhöraktionen angewiesen.« Doch selbst damit ist es schwierig. Inzwischen würden die Gespräche etwa zwischen beteiligten Menschenhändlern, korrupten Unternehmern und Vermittlern oft über verschlüsselte Messenger geführt, nicht selten verwendeten die indischen Beteiligten einen besonderen Pandschabi-Dialekt. Und ihre Opfer, sagt Monsurrò, nannten die Täter oft nur mit Spitznamen.
Der Gang ins Ausland hat im Pandschab Tradition. Landesweit ist es der Bundesstaat mit der zweithöchsten Auswanderungsrate. In vielen Städten werben Wandgemälde für ein Studium in der Ferne. Prunkvoll angemalte Wassertanks auf den Dächern zeigen, wer es in der weiten Welt zu etwas gebracht hat. Joban Singh hatte nie die Chance auf ein Studium, nur die Arbeitskraft seiner Hände. Als sein Vater im Juni 2019 an einem Herzinfarkt starb, wurde er zum Hauptversorger der Familie.
Woher sich Joban das Geld lieh, weiß seine Mutter bis heute nicht vollständig. Freunde und Bekannte gaben ihm etwas, örtliche Geldverleiher ebenso. 7000 Euro steuerte offenbar ein Verwandter bei, der bereits in Italien lebte. Insgesamt soll Joban Singh etwa 10.000 Euro Schulden aufgenommen haben, um einmal ein besseres Leben führen zu können. Es erschien ihm offenbar als der bestmögliche Weg, um seine Familie zu unterstützen.
Die Ausbeutung nach der Ausbeutung
Als Joban Singh in Rom ankam, hatte er legale Papiere, aber keinen echten Arbeitgeber. Niemand wartete auf ihn, sein Arbeitsvertrag war gefälscht. Plötzlich hatte er als ungelernter Hilfsarbeiter in einem fremden Land fünfstellige Schulden und keinen Job. Er folgte den Ratschlägen anderer Arbeitsmigranten, denen es ähnlich ging. So kam er in die ehemalige Feriensiedlung Bella Farnia. Nach sechs Monaten lief sein Visum ab, er blieb.
Allein rund um Sabaudia sollen heute etwa 13.000 Inder leben. Vielleicht auch doppelt so viele. So genau weiß es niemand. Sicher ist, dass die gut 20.000 landwirtschaftlichen Betriebe in der Region gut zu tun haben und offensichtlich zuverlässig Personal finden. 109 Millionen Euro betrug ihr Umsatz im Jahr 2021. Fast die Hälfte der Ernte ging nach Deutschland – wie der Kohlrabi, den Joban Singh schließlich erntete.
»Die hohen Schulden für die Einreise und die falschen Papiere sind die Grundlage für alles weitere Elend«, sagt Marco Omizzolo. Durch sie würden die Arbeitsmigranten schutzlos, verzweifelt, bereit zu jedem Job. »Danach folgt die zweite Ausbeutung.« Omizzolo arbeitet als Soziologe an der Universität La Sapienza in Rom. Und er ist Aktivist, Journalist und so etwas wie eine Ein-Mann-Gewerkschaft für Erntehelfer. Seit Jahren recherchiert er, wie Arbeitsmigranten in Italien ausgebeutet werden. Er organisierte eine Demonstration mit 5000 Arbeitsmigranten. Sein Engagement hat einen hohen Preis: Omizzolo lebt unter Polizeischutz. Wer ihn treffen will, wird an einen öffentlichen Ort gelotst, dort von einem Auto abgeholt und schließlich in eine private Wohnung gebracht.
Das Forschungsinstitut Eurispes hat errechnet, dass sich die Gewinne der »Agromafia« unter anderem mit gepanschten Lebensmitteln und Ausbeutung in ganz Italien im Jahr 2019 auf mindestens 24,5 Milliarden Euro belief. Tendenz steigend. »Warum ist der Gewinn so hoch?«, fragt Omizzolo. »Weil die Ausbeutung von Einreise bis Ernte systematisch organisiert ist.«
Und fast alle profitierten von dem System, sagt Omizzolo. Die Bauern erhielten problemlos günstige Arbeitskräfte. Italiener müssten sich wenig Sorgen machen, dass Inder ohne Aufenthaltsrecht ihnen den Job streitig machen. Indische Vermittler beuteten ihre Landsleute aus. Großhändler und Supermärkte erhielten zuverlässig günstiges Obst und Gemüse. »Auch Sie und ich profitieren davon«, sagt Omizzolo. »Nur die Erntehelfer nicht.«
Der Versuch, etwas zu ändern
Der junge Mann, der nur Malhi genannt werden will, weiß, was die Folgen sind. Er war ein Kollege von Joban Singh, gemeinsam standen sie für denselben Betrieb auf dem Feld. Zeit für Freundschaft hatten sie nicht, erinnert sich der 27-jährige Inder. »Es gibt Zehntausende Erntehelfer in diesem Land. Aber in Wahrheit sind wir alle allein«, sagt er. Auch Malhi kam über einen Vermittler nach Italien und landete dann in Sabaudia. »Es ist nicht so, dass alle ohne Verträge sind«, sagt er heute. »Aber selbst mit einem Vertrag bezahlen sie dir zu wenig, lassen dich mehr arbeiten oder verweigern den Lohn. Wir sind Sklaven. Um dein Geld doch noch zu bekommen, arbeitest du immer weiter.«
Malhi sagt, er habe gehört, dass Singh verzweifelt gewesen sei. Die Hoffnung, durch den indischen Vorarbeiter doch noch einen Arbeitsvertrag und eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, sei illusorisch gewesen. »Es war vielleicht das nächste Geschäft mit ihm. Mit seiner Hoffnung.«
Malhi ist inzwischen Kronzeuge in einem Ermittlungsverfahren. Im Gegenzug für seine Aussage erhielt er die Möglichkeit, legal zu bleiben. Er arbeitet wieder auf dem Feld, aber mit Papieren. Um ihn zu schützen, ist sein Name geändert, seine echte Identität ist dem SPIEGEL bekannt.
Seit 2016 gibt es in Italien Gesetze gegen Ausbeutung, die selbst Marco Omizzolo »die fortschrittlichsten in Europa« nennt. Sie seien die Grundlage für die Ermittlungen von Staatsanwältinnen wie Daria Monsurrò. Und doch würden sie meist nur strafrechtlich genutzt, nicht zum Schutz von Ausgebeuteten.
Zudem ändert das moderne Arbeitsrecht wenig am dysfunktionalen Einreisegesetz, den Folgen der »Bossi-Fini«-Reform. Und am fehlenden Interesse derjenigen, die später das Obst und Gemüse verkaufen. In den 18 Monaten als illegaler Arbeiter auf dem Feld, sagt Malhi, habe er kein einziges Mal Vertreter ausländischer Supermärkte gesehen. Das Unternehmen, für das er und Joban Singh ernteten, wirbt mit seinen Standards. Es geht um Nachhaltigkeit, garantiert hohe Qualität, gesundes Gemüse und Gütesiegel. »Für Bio gibt es heute bunte Aufkleber, für unsere Arbeitsbedingungen nicht«, klagt Malhi.